Auto gegen CargoBike

Die Gemeinde Niestetal, in der wir mit der Familie zu Hause sind, beteiligte sich an einem Projekt zur Förderung der Nahmobilität. Dahinter steckt die Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen (AGNH), initiiert von der Hessischen Landesregierung. Es geht darum, das Fahrrad als Nahverkehrsmittel neu zu entdecken. Dafür standen in einem Testzeitraum vom 8. Januar bis 1. Februar 2019 unterschiedliche elektrisch angetrieben Fahrradmodelle zur Verfügung. Und das kostenlos! Ein super Aktion wie ich fand. Schon seit einiger Zeit habe ich Gefallen an sogenannten Cargo-Bikes gefunden. Mit dieser Gattung Fahrrad ist man in der Lage, auch größere Lasten unkompliziert zu befördern. Im Hessischen Bergland macht eine elektrische Unterstützung durchaus Sinn. Bei der Gemeinde durfte ich mir also ein Cargo Bike mit e-Antrieb der Firma UrbanArrow, einem relativ jungen Amsterdamer Unternehmen, für eine Woche ausleihen.

Da steht es, das UrbanArrow Family. Fertig zum Test, im Schneeregen!


Zur Verfügung stand mir das Modell UrbanArrow-family, mit einer großen Transportbox, darin integriert ein Sitzbrett für zwei Kinder, Gurte inkusive. Wow, war das anfangs ein Fahrgefühl! Wie der Kapitän eines Frachters auf dem Nord-Ostsee-Kanal bin ich um die ersten Kurven navigiert. Nach ein paar Kilometern hatte ich das Bike halbwegs im Griff. Die Auswahl an Cargo-Bikes ist inzwischen ganz schön groß und es macht Sinn, mehrere davon Probe zu fahren, um den richtigen Typ für sich herauszufinden. Nachfolgend meine Erfahrungen und ein paar Eckdaten zu dem von mir getesteten Modell.

Die Ausstattung des Leihrades:

  • Schaltung: Nuvinci N380 (stufenloses Getriebe)
  • Antrieb: Bosch Perfomance Line
  • Akku: 400WH, 4A Ladegerät für Schnellladung in 4h
  • Lichtanlage von Busch&Müller
  • Shimano Deore Scheibenbremsen vorn und hinten
  • Am Rahmen befestigtes Speichenschloss
  • Ein zusätzliches Abus Kettenschloss
  • Leergewicht: 47kg

Nutzwert eines Cargo-Bikes

  • Hohe Zuladung von ca. 150kg möglich (je nach Fahrergewicht, max. Systemgewicht 275kg)
  • Gutes Fahrgefühl auch mit schwerer Beladung
  • Großes Packvolumen
  • Sehr praktisch im täglichen Einsatz, da keine zusätzlichen Taschen benötigt werden
  • Viel Fahrspaß

Nachteile eines Cargo-Bikes (Marken-unabhängig)

  • Durch den langen Radstand und geringen Lenkwinkel nicht sehr wendig
  • Enge Kurvenradien sind nicht ohne weiteres zu Fahren
  • Wegbeschränkungen durch Stahlpfosten bilden teilweise unüberwindbare Hindernisse (z.B. an Bahnübergängen)
  • Bike ist für den Transport in der Tram ungeeignet
  • Das Rad einfach mal in den Keller tragen funktioniert nicht (Länge, Gewicht)

Überlegung einer Alternative:

  • Möglicherweise ist im Stadtverkehr ein e-Bike mit Anhänger flexibler einsetzbar (siehe weiter unten, „noch ein paar Worte…“)
  • Nachteil ist deutlich geringere Zuladung
  • Günstigerer Anschaffungspreis des „Gesamtsystem“ (Pedelec+Anhänger)
  • Das Pedelec kann auch für „normale“ Touren genutzt werden (Breitere Reifen auch für Waldwege)

Was sonst noch:

Zwei ziemlich beste Freunde sind das UrbanArrow und ich schon am zweiten Tag geworden. Als ich etliche Kurven im Stadtverkehr und auch mal über Schotter „geheizt“ bin. Sehr gut hat mir übrigens die Kombination des Nuvinci-Getriebes mit dem Bosch-Antrieb gefallen. Allerdings hat mich der Motor mit seiner deutlich wahrnehmbaren Akustik etwas genervt. Wenn er unterstützt, ist eine Klingel fast nicht nötig. Ich wurde gehört. An sechs Tagen habe ich das Bike genutzt. Meistens einfach nur für den Arbeitsweg, einfache Strecke ca. 10km. Dann für den Einkauf und etwas durch die Gegend gondeln. Dabei habe ich 110 Kilometer gesammelt. Gerne hätte ich das Rad noch ein wenig länger als nur knapp eine Woche gefahren, aber der nächste „Testpilot“ stand schon bereit.
Trotzdem ein Lob an unsere Gemeinde, dass sie dieses Projekt unterstützt hat. Als nächstes ist die Stadt Kassel gefordert, in der jüngst der „KasselerRadentscheid“ wegen formeller Fehler gescheitert ist (Bericht in der HNA). Dennoch besteht Hoffnung, dass die Stadt die Mobilität mit dem Fahrrad deutlich stärker unterstützt als bisher. Kassel hat nämlich einen akuten Handlungsbedarf. Homöopathische Eingriffe ins Straßennetz für den Radverkehr sind zwar umgesetzt worden, teilweise verblassen die Ansätze aber schon wieder auf dem Asphalt (z.B. Harleshausen/Wolfhager Straße) Ein vernünftiges Konzept lässt auf sich warten. Bis hier wirklich etwas für ein gefahrloses Miteinander von Fußgänger, Fahrrad und Pkw passiert, wird noch viel, nein, sehr viel Wasser die Fulda runter fließen und ich dem Ruhestand ein gutes Stück näher sein…

Ausblick

Für mich stehen nun weitere Probefahrten auf der ToDo-Liste: Ein „Load“ von RieseMüller und dann auch ein ButchersAndBicycles MK1, an dem ich einen besonderen Narren gefressen habe. Technisch ein Leckerbissen, optisch Liebe auf den ersten Blick. Und wenn es irgendwie geht, möchte ich auch sehr gerne ein e-Bullitt testen. Dieses finde ich nicht zuletzt wegen des Shimano Steps-Antriebes super interessant. Bullitt hat außerdem noch den Ruf einer eher sportlichen Sitzposition, was einem ambitionierten Radfahrer sehr entgegen kommt. 

Ein sehr spannender Artikel über die Auswahl eines Cargo-Bikes stammt übrigens aus der Feder von JacominasEnkel. Er hat sich auch sehr viel Gedanken über die Anschaffung eines Lastenrades gemacht, dass den Kauf eines Zweitwagens überflüssig machte. 

Noch ein paar Worte zu einem Anhänger:

Einen Lastenanhänger von Roland habe ich auch noch im Keller stehen. Während der ersten Überlegungen schien er tatsächlich mehr Flexibilität als ein CargoBike zu bieten. Denn der Anhänger ist an beinah jedem Rad zu befestigen. Egal ob elektrisch oder nur mit Muskelkraft angetrieben. Dieser besitzt aber auch sehr klare Nachteile:

  • Kupplung muss erst am Bike befestigt werden und bleibt dann montiert. Auch wenn ich ohne Hänger fahre! 
  • Muss wegen Diebstahlgefahr extra abgeschlossen werden
  • Kann nicht so große Lasten wie ein Cargobike transportieren
  • Transportgut ist meisten auf dem Hänger zu befestigen (wenn es sich nicht in der aufsteckbaren Tasche befindet)

Dass wir in der Familie einen Zweitwagen gut durch ein elektrisch angetriebenes Cargo-Bike ersetzen können, hat der Test über eine Woche grundsätzlich bewiesen. Natürlich ist man auch auf einem Pedelec unangenehmen Wettereinflüssen wie Kälte, Regen und Schnee ausgesetzt. Wobei der Regen eher ein Einstellungssache ist, wird es bei Schnee tatsächlich schwieriger. Auch das durfte ich während meiner Testphase leibhaftig erleben. Es gibt Tage, da ist man froh, auf ein Auto zurückgreifen zu können. Das sehe ich aber auch sehr entspannt, denn den überwiegenden Teil des Jahres wäre mit Sicherheit das Rad unterwegs. 
Hier noch ein link zu einem weiteren Bericht in der HNA, für den ich interviewt wurde 🙂 

Über den Tellerrand geschaut

Im Zusammenhang mit Cargo-Bikes habe ich auch ein interessantes Gespräch mit einer Sportkollegin beim Lauftreff geführt. Sie arbeitet bei der Post und hat ein wenig über den Einsatz der dortigen Lastenräder berichtet. Größtes Problem: Die Wartung der Räder. Wenn etwas defekt ist, dauert es lange, bis eine Reparatur erfolgt. Meist hapert es wohl an der Verfügbarkeit von Ersatzteilen und entsprechenden Mechanikern. Dadurch bin auf einen ganz interessanten Artikel im MTB-Forum gestoßen:

https://www.mtb-news.de/news/2018/05/16/andi-schmidt-live-cycle-interview/

Wer sich über Motorenkonzepte informieren möchte, dem kann ich ein Blick auf die Seite vom Pressedienst-Fahrrad (link) empfehlen. Hier werden die neuesten Konzepte näher beschrieben. 

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7 Thoughts to “Auto gegen CargoBike”

  1. Tino

    Hi Mario, schau Dir auch mal das CD1 CARGOn Nicolai an. Ich finde bei diesem Bike auch die Optik einfach klasse:
    https://www.hnf-nicolai.com/ebike/cd1-cargo/

    1. Mario Schön

      Hallo Tino, wow, das Bike kannte ich bislang noch gar nicht! Das Design gefällt mir auch echt gut. Das wäre auf jeden Fall ein Cargobike, das ich gerne mal fahren würde. Die Kombi Bosch-Antrieb und Nuvinci kenne ich ja schon vom Urban Arrow: Eine super Kombination.
      Mich wundert ein wenig, dass Nicolai sich nur auf Bosch konzentriert, denn meiner Meinung nach wird insbesondere bei den Cargobikes der Hinterrradantrieb etwas vernachlässigt. Technisch gesehen bietet dieser einige Vorteile gegenüber dem Mittelmotor. Die Akustik ist nur eine Randerscheinung (obwohl die mir eher negativ auffiel), der Verschleiß ist aber deutlich geringer im Vergleich. Die Kraft geht direkt über die Nabe auf die Straße, es wird kein Getriebe benötigt. Vielfach angesprochen wird auch die Rekuperation. Auch das ist nur mit einem Hinterradantrieb möglich. Leider wird allerdings der Wirkungsgrad dabei sehr unterschätzt! Ich hatte schon einmal die Möglichkeit das auszuprobieren. In einem 10%tigen Gefälle bringst du das Rad locker zum Stillstand, wenn du versuchst Energie zurückzugewinnen. Der geringe Verschleiß und die Tatsache, dass diese Motoren so gut wie geräuschlos arbeiten, empfinde ich als den größten Vorteil.
      Ich freue mich über weitere Tipps, Hinweise, Sichtungen …. 🙂
      LG
      DerMario

  2. Thomas

    Deine Gedanken zum Radverkehr in Kassel und das Lob an die Gemeinde Niestetal teile ich.
    Allerdings behaupte ich mal, dass die Gemeinde die Aktion nur mitgemacht hat, weil es mit wenig oder keinen Kosten verbunden ist und sie in positivem Licht erscheinen lässt. Ansonsten agiert die Gemeinde doch sehr autogerecht. Viele Hinweise und Verbesserungsvorschläge pro Fuß- und Radverkehr meinerseits, blieben ungehört. Im Moment kann ich leider auch noch nicht erkennen, dass das mit dem neuen Bürgermeiter besser wird.
    Manchmal denke ich darüber nach, einen „Nahmobilität Niestetal Blog“ einzurichten…

    1. Mario Schön

      Die Aktion war nicht zuletzt durch die Unterstützung der HNA tatsächlich ziemlich werbewirksam! Das ist mir aus verschiedenen Rückmeldungen klar geworden. Wenn du in den Kommentaren des Onlineartikels mal liest, gibt es auch kritische Stimmen. Hauptsächlich aber auf elektrisch angetriebene Fahrräder bezogen….leider auch weniger konstruktive Diskussionen über Akkutechnologie (Sackgasse).

      Besondere Aktivitäten zur Förderung des Radverkehrs habe ich in unserer Gemeinde auch noch nicht wahrgenommen, außer ich wurde direkt von Loisl mal darauf hingewiesen. Vielleicht ist das Projekt aber auch ein erster Schritt in die richtige Richtung. Unsere Gemeindevertreter benötigen viel mehr Rückmeldungen (eher Penetration) aus der Bevölkerung, um die Notwendigkeit zum Handeln zu erkennen. Ein, zwei Personen sind da natürlich viel zu wenig. Und da finde ich deine Idee für einen Blog zur Nahmobilität in Niestetal eine super Idee. Würde ich sofort unterstützen, mitarbeiten….

      1. Thomas

        Hi Mario,
        wir können uns gerne mal zusammensetzen und ein wenig über einen Niestetal Blog philosphieren…

  3. wolle

    Hi Mario,
    wieder mal ein interessanter Bericht, gespickt mit ’ner Menge Details.

    1. Mario Schön

      Hallo Wolle,
      habe in der Tat etwas überlegt, wie ich das am besten alles in einem Blog-Artikel verwursteln kann.
      Es ist so eine Crux, sich nicht in langen Beschreibungen von Details zu verlieren, aber trotzdem möglichst viel Information zu transportieren.
      Aber anscheinend ist mir der Spagat einigermaßen gelungen 🙂

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