Schotter Schreddern auf Strecken biblischen Ausmaßes – Der HolyGravel

Wenn die Uhr schon wieder auf Winterzeit gestellt ist, die Tage nur noch wenig Licht spenden und das Laub zu großen Teilen auf dem Boden liegt, dann ist für viele Radfahrer die Saison eigentlich gelaufen. Das Rad wird maximal bei schönem Wetter am Wochenende nach draußen bewegt, nicht wenige sitzen jetzt meistens nur noch auf der Rolle zum Trainieren. Aber hoch oben im Norden, dort leben unerschütterliche Biker, die auch unter den widrigsten Bedingungen sich immer noch mit dem Rad an die frische Luft trauen. Aus diesen Reihen stammt Bernd, der über Halloween zum HolyGravel mit Start und Ziel in Hamburg eingeladen hat.

Die Starter des HolyGravel sammeln sich am Entenwerder


Bernd ist, wie er selbst sagt, ein Jünger des gepflegten Schotter schredderns und hat „zwei Strecken biblischen Ausmaßes“ kreiert, von denen eine sogar auf und um Fehmarn führt. Zur Wahl standen somit Distanzen über 555km ohne Fehmarn und 666 Kilometer mit einer Insel-Umrundung, das alles selbstverständlich im Selbstversorgermodus. Der HanseGravel im Frühjahr hat mich schon so begeistert, dass ich eigentlich gar nicht lange über eine Teilnahme am HolyGravel nachdenken musste. Mit Entrichten einer wohltätigen Spende an den Mitternachtsbus für Obdachlose und dem Senden einer Mail an Bernd war die Anmeldung erledigt. Der Startpunkt auf dem Entenwerder kam mir sehr entgegen, den kannte ich ja schon vom HanseGravel. Meine Idee, dort auch wieder die Nacht vor dem Start zu verbringen, habe ich wenige Tage vorher kurzerhand geändert, weil die Wetterprognose voll auf Regen schwenkte. Auf einen Start in klatschnassen Klamotten und nasser Ausrüstung hatte ich keine Lust. Das Hotel lag optimal in Startnähe und war sogar relativ preiswert. Die Anreise per Bahn habe ich auf Grund der unverhältnismäßig teuren Tickets – oder wegen alternativ ewig langer Anreise – begraben und stattdessen das Auto (Benzin, kein Diesel 😉 ) benutzt. Die eine Tankfüllung für die Fahrt hin und zurück war sogar inklusive Übernachtung immer noch deutlich günstiger, als die Bahntickets (ohne BahnCard). Schade, denn im Frühjahr war ich von der Fahrt mit dem ICE und der Möglichkeit, das Fahrrad mitzunehmen noch ziemlich bergeistert. Vielleicht spielte auch der Feiertag eine Rolle in der Preispolitik der Bahn. Weil Josh aus Göttingen sich auch zum Start gemeldet hatte, bot ich ihm meinen Mitnahmeservice an. So war das Auto wenigsten gut beladen und ich hatte einen Copiloten an Bord 🙂 

Am Donnerstag (Reformationstag) früh um halb acht ist der Start auf dem Entenwerder. Von den 104 gemeldeten Startern sind meiner Schätzung nach höchstens 60 tatsächlich vor Ort. Die ersten mir bekannten Gesichter sind Britta und Andreas, die die Nacht irgendwo im Campingbus verbracht haben. Nach und nach tauchen aus dem Nebel am Elbufer weitere Radfahrer auf. Und irgendwann ist auch Bernd da. Er hat zwei Flaschen hochprozentigen Startpilot dabei, den er nach einer kleinen Begrüßung in der Menge verteilt. Boa, nix für mich so früh am Morgen. Es ist bitterkalt, knapp um den Gefrierpunkt herum. Jeder ist froh, dass wir uns recht schnell in Bewegung setzen. Wenig später blinzelt vor uns die Sonne durch den Nebel und taucht die Landschaft in goldiges Licht. Wärme ist allerdings keine zu verspüren. Aber was für eine Stimmung! Die Großstadt liegt schnell hinter uns, und das ohne großen Verkehr. Die ersten 30 Kilometer verstreichen wie im Fluge. Eigentlich wollte ich doch irgendwo an der Tanke Frühstücken, gesehen habe ich jedenfalls keine. Kein Wunder, führt doch der Track weite Strecken über Feld- Wald- und Fahrradwege. Ab und zu kommt mal ein Dörfchen, die Menschen scheinen noch alle zu Schlafen.

Nach knapp 70 Kilometern mit nur einem Riegel im Bauch entdecke ich mehr zufällig in „Güster“ die kleine Bäckerei Heymer. Mehrere bepackte Räder vor der Tür deuten auf weitere Holy-Fahrer hin. Eine Mohnschnecke, ein Streuselkuchen, ein belegtes Brötchen sowie eine große Tasse Kaffee wandern direkt in meinen Magen. Vor allem aber herrscht in der Bäckerei eine wohlige Wärme. Dass ein paar Ureinwohner draußen vor der Tür beim Kaffee sitzen und plaudern, kann ich so durchgefroren kaum verstehen. Nach der Pause sind meine Lebensgeister wieder geweckt, das Gefühl in Hände und Füße zurückgekehrt. Es folgt eine super schöne Strecke, vorbei an mehreren kleinen Seen, bevor ich schließlich den Ratzeburger See erreiche. So riesig hatte ich den gar nicht in Erinnerung! In Nordrichtung kann ich am Horizont kaum das Ufer erkennen. An die Strecke kann ich mich nur noch dunkel vom mehrmals gelaufenen Ratzeburger Adventslauf. erinnern. Mit seinen 26 Kilometern ist der schon deutlich länger, als die klassische Halbmarathonstrecke. Am Ufer treffe ich mehrmals auf weitere HolyGraveller, die sich in der Sonne etwas aufwärmen. Mittagessen kann ich noch nicht und verschiebe das, bis ich in der Nähe von Lübeck bin. Allerdings lässt der Track die Stadt links liegen und schneller als gedacht stehe ich schon am Herrentunnel, um auf den Shuttlebus zu warten. Mit mir wartet hier auch Emma, die aus der Nähe von Manchester (UK) stammt und noch ein paar mehr Biker, die mir aber alle unbekannt sind. Ab einer Dönerbude fahre ich mal mehr, mal weniger in Begleitung von Emma. Unterwegs kann ich von ihrer Helmlampe, sie von meinem Navi profitieren, denn am Lenker habe ich lediglich einen Dynamoscheinwerfer befestigt. Auf eine zweite Lampe habe ich blöderweise verzichtet. Ein schwerer Fehler und eine Lehre für nächste herbstliche oder winterliche Graveltour! Das dichte Laub am Boden bedeckt im Wald die kompletten Wege, so dass der Pfad tatsächlich unsichtbar ist. Das Dumme beim Dynamo ist, dass das Licht mit abnehmender Geschwindigkeit natürlich dunkler wird. Bleibt man zwecks Orientierung stehen, ist’s plötzlich ganz schön dunkel um einen herum 🙂 Aus welchen Gründen auch immer, habe ich den Track auf mehr oder weniger guten, breiteren Wegen vermutet. Leider eine komplette Fehleinschätzung, denn streckenweise wird es ganz schön trailig unterwegs, was am Tage natürlich total Spaß macht. Mich in der Dunkelheit aber mächtig einbremst. Und mit der einbrechenden Dunkelheit fällt auch die Temperatur wieder in den Keller. Neidisch beobachte ich in den Ortschaften die Festlichkeiten wegen Halloween. Nicht wenige Anwohner haben kleine Lagerfeuer im Vorgarten oder den Grill angefeuert. Kleine „Geister“ sind in elterlicher Begleitung natürlich auch unterwegs. Halloween ist hier oben echt ein Thema! In Neustadt führt die Strecke dicht an einem McDonalds vorbei, ideal zum Aufwärmen und fürs längst fällige Abendessen. Der Biergarten steht auch hier wieder voller Gravelbikes. Es sieht aus, wie ein Auffangbecken für unterkühlte, hungrige Holygraveller! Nach einer guten Stunde Pause fällt der Aufbruch regelrecht schwer, draußen liegt die Temperatur bereits wieder um den Gefrierpunkt. Inzwischen sind fast 180 Kilometer für heute geschafft, es wird Zeit für ein Plätzchen zum Übernachten. Ich nutze die Gelegenheit und schließe mich drei Bikern an, die ebenfalls draußen bleiben wollen. Auf einer nicht weit entfernten Kuppe steht ein Aussichtsturm, den wir uns näher anschauen wollen. Der Turm ist zwar von einem Elektrozaun großflächig umgeben, die Wiese ist aber ein idealer Untergrund fürs Zelt. Das Lager ist innerhalb weniger Minuten errichtet, der Schlafsack über dem Kopf zugezogen. Ich brauche nicht lange, bis ich einschlafe.

Am nächsten Morgen stehen zwei weitere Zelte in unserer Nachbarschaft. Ich glaube es sind Heinz aus Berlin und Rolf. Nach Plauderei am Morgen ist mir bei den Termparaturen nicht zumute. Ich packe flink mein Zeug zusammen und breche auf. Es macht Spaß, so früh auf dem Rad zu sein. Der Boden ist leicht gefroren, die Reifen erzeugen ein leises Knistergeräusch. In der aufgehenden Sonne fährt es sich geradezu meditativ. Schon nach ein paar Kilometern meldet sich der Hunger und so kommt diese schöne Bäckerei in Eutin genau zur richtigen Zeit.

Mein nächstes größeres Ziel ist nun Kiel. Vorher geht es aber noch am Plöner See vorbei, an dem ich vor Urzeiten auch schon mal mit einem Campingbus gestoppt habe. Die Laune ist bestens, das Wetter auch. Noch, aber das sollte sich bald ändern. Ich rechne eigentlich laufend damit, dass mich die Jungs vom Biwak der letzten Nacht überholen. Es ist aber weit und breit kein HolyGraveller in Sicht und so kurbele ich weiter allein vor mich hin und genieße in vollen Zügen die Landschaft. Am Stadtrand von Kiel fülle ich meine Getränkeflaschen auf, gönne mir dazu noch einen Kaffee. Draußen fährt derweil die #28? vorbei. Im Getummel der Stadt verliere ich ihn bald aus den Augen, halte aber ohnehin oft für ein paar Bilder an. Wetteronline scheint Recht zu behalten: Der Himmel ist jetzt komplett zugezogen, wir haben frühen Nachmittag. Insgeheim hoffe ich, dass es regentechnisch nicht so schlimm kommen wird, immerhin ist es spürbar wärmer geworden. Der Track führt nun an der Ostseeküste entlang. Aufpassen heißt es, denn mein Blick wandert fast zwangsweise immer wieder in Richtung Meer, was ab und an zu spaßigen Lenkmanövern führt. Etwa 15 Kilometer vor Eckernförde beginnt es plötzlich zu regnen. Die Regenklamotten habe ich als Wärmeschutz ohnehin schon an. Insofern ist das also nicht dramatisch. Blöd wird jetzt nur die Sicht: Auf meiner Brille sammeln sich fette Tropfen, ebenso auf dem Navi. Wird es schon düster? Ancheinend schon, ich stelle das Garmin jedenfalls mal auf Dauerlicht um. Viel mehr sehen kann ich aber trotzdem nicht. Kurz vor Eckernförde bleibe ich lieber auf dem Radweg, als dem Track in Richtung Strand zu folgen. Als der Regen dann stärker wird, fange ich an zu grübeln, welche Optionen sich mir nun bieten: Soll ich in Eckernförde einfach ein Quartier beziehen? Das Zelt ist vom Morgentau ohnehin nass, der Schlafsack auch etwas feucht. Beides in einer festen Unterkunft trocknen, wäre eine feine Sache. Es ist aber erst 16Uhr und der Tacho meldet lediglich eine Tagesstrecke von 120 Kilometer. Um einigermaßen im geplanten Zeitfenster wieder in Hamburg anzukommen, müsste ich heute noch etwa 60 Kilometer fahren. Unter „normalen“ Bedingungen“ wäre das gut machbar. Bei dem Schietwetter und der Kälte sehe ich da eher schwarz. Am Stadtrand stelle ich mich unter und betrachte die Wettervorhersage. Es wird die ganze Nacht nicht besser, auch der Samstagmorgen bleibt regnerisch. Tja, was geht jetzt noch? In Eckernförde gibt es einen Bahnhof! Die Bahn-App zeigt eine Nahverkehrsverbindung nach Hamburg in einer halben Stunde. OK, Entscheidung gefällt. Ich fahre zurück. Das war der HolyGravel 2019. Kurz, intensiv und super schön. Dann komme ich eben wieder. Offene Rechnungen mag ich nicht.

Keine zwei Stunden Fahrzeit benötige ich zurück bis Hamburg. Vom Bahnhof zum Hotel, wo ich das Auto parken konnte, sind es fünf Kilometer. Immerhin im Regen. Kurz nach 23 Uhr bin ich wieder zu Hause.

Danke Bernd für diese grandiose Graveltour! Die Strecke hat es in sich und besonders bei schlechtem Wetter ist das Vorankommen deutlich erschwert. Der Spaßfaktor aber sehr groß!
Danke an Harald, der Spotwalla zum online verfolgen der Starter – für die „Dotwatcher“ daheim – eingerichtet und auch jede Menge administrative Unterstützung geleistet hat! 

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7 Thoughts to “Schotter Schreddern auf Strecken biblischen Ausmaßes – Der HolyGravel”

  1. Signe

    Hi, hört sich und sieht wie immer gut aus…wenn auch ganz schön kalt – Respekt 🙂 Und für 2020 gibt es auch glaube schon den ein oder anderen Mitfahrer 😉

    1. Mario Schön

      Hehe, 😁 ja, den ein oder anderen habe ich offenbar schon infiziert. Diese Graveltouren beinhalten ein hohes und ansteckendes Suchtpotenzial. Zum Glück aber ohne schädigende Wirkung, ganz im Gegenteil: weil sie so viel Spaß machen, sind diese Touren in ihrer Wirkung eher mit Yoga oder Meditation vergleichbar 😄😄

  2. Gert

    Wieder ein sehr schöner Bericht – die Stimmung kommt sehr gut rüber. Und die Bilder sind noch schöner. Leider hatte ich zu spät vom HolyGravel erfahren und dann keine Zeit dafür 🙁

    1. Mario Schön

      Danke für die Blumen Gert, schade, dass es bei dir nicht gepasst hat. Von der Strecke bin ich tatsächlich sehr begeistert. Deshalb werde ich auf jeden Fall in 2020 ein Zeitfenster suchen, die Runde noch einmal zu fahren. Ich denke, dass du auf dem Kurs auch eine Menge Spaß hättest…

      1. Gert

        Ja, das ist eine gute Idee, Mario – ich halte mir den Reformationstag und drum rum einfach mal frei 🙂

  3. Wieder sehr schön geschrieben, Mario – hätte mich auch gereizt, aber wie Du selbst erfahren hast: Zu kurze Tage (absehbar) und leider zu schlechtes Wetter (nicht absehbar).

    1. Mario Schön

      Danke der netten Worte Jochen 🙂 Normalerweise habe ich mit der Dunkelheit weniger Probleme. Und genau deswegen wohl zu wenig nachgedacht! Allerdings habe ich auch die Waldwege ein wenig unterschätzt. Hätte nicht gedacht, dass der Trailanteil so hoch ist und die Pfade so schmal. Den Norden habe ich dadurch ganz neu kennengelernt.

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